Allgemein Norwegen Sogn og Fjordane

Harastølen und die Geschichte vom einsamen Baum

Es ist der erste Abend dieses Jahr in unserem Ferienhaus am Lusterfjord. Wir haben riesige Panoramafenster und als allererstes stellen wir die Couch direkt davor. Es ist regnerisch. Wolken ziehen an den Bergen entlang. Und wir sitzen stillschweigend nebeneinander und starren nach draußen. Während alle darüber nachdenken, was wir morgen als erstes machen wollen, gibt das wolkige Band den Blick auf die gegenüberliegende Seite frei. Da fällt er uns das erste Mal auf. Ganz einsam steht mitten auf dem Gipfelgrat ein einsamer Baum. Mystisch, umgarnt vom Nebel, erscheint seine Silhouette immer wieder. Es dauert nicht lange, da ist es beschlossene Sache. Dort soll es morgen hingehen.

Noch präsenter bei dem Blick auf die andere Seite ist eigentlich ein riesiges, weißes Gebäude, welches mitten im Hang steht. Wie sich bei Nachforschungen herausstellt, war es einmal ein Sanatorium, eine psychatrische Einrichtung, zwischenzeitlich ein sogenannter Lost Place und soll nun wieder aufgebaut werden, um bald als pompöses Hotel über dem Fjord zu thronen. Eine Straße soll hinaufführen zum Harastølen, von wo aus einige Wanderwege starten. Also perfekt für unsere Wanderung zum einsamen Baum.

Am Morgen starten wir also mit dem Auto Richtung Luster. Ein Schild weist den Weg hinauf zum Harastølen. Während die abenteuerliche Straße sich zunehmend in einen steinigen Schotterweg verwandelt, wird sie immer steiler und wir immer blasser. Eigentlich kennt man ja diese speziellen norwegischen Straßen. Vor allem, wenn es steil nach oben geht. Aber durchdrehende Reifen und Lottis immer lauter werdendes Hecheln bringt uns dazu, ein paar Serpentinen weiter unten zu parken und den Rest zu laufen. Und kurze Zeit später erreichen wir auch schon das imposante Gebäude. Ein Bauzaun steht darum und überall hängen große „Zutritt verboten“-Schilder. Eigentlich schade, wir hätten auch gerne einen Blick herein geworfen.

Eine mystische Stimmung umgibt uns am Harastølen

Auf dem gesamten Gelände stehen diverse Häuser verteilt, einige sehen fast noch bewohnt aus, während andere bereits verwittern. Wie bei allen ehemaligen Heilstätten liegt auch hier ein mystisches Gefühl in der Luft. Zum Glück hat sich der Nebel des Vortages verzogen, sonst wäre es sicherlich gruselig geworden. Wir erkunden noch ein wenig das Gelände, bis wir Wanderschilder entdecken. Zunächst geht es über einen Traktorweg weiter steil nach oben. Wir erreichen ein weiteres Haus, was schon fast die Baumgrenze markiert. Ab hier wird der Weg kleiner, führt allerdings in die falsche Richtung. Wir wollen nicht auf den höchsten Gipfel, wir wollen zum Baum, der einsam irgendwo am Grat steht. Die Landschaft verwandelt sich zunehmend in ein grün-gelbes Fjell. Rechts von uns donnert ein Wasserfall den Berg hinab, während sich über ihm dunkle Wolken ansammeln. Der Blick voraus lässt nichts Gutes erahnen. Regen ist im Anmarsch.

Wir folgen dem Pfad noch ein Stück, doch er führt uns immer weiter ins tiefe Fjell hinein. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als querfeldein zu laufen, wieder weiter Richtung Bergkante. Es tröpfelt ein wenig auf meine Kapuze, bis ich ein weiteres Geräusch wahrnehme. Ein Rauschen, welches immer lauter wird. Verdammt. Ein Fluss. Und er trägt nicht gerade wenig Wasser. Flussüberquerungen gehören ja langsam zu unseren Spezialitäten. Also laufe ich zunächst ein Stück flussaufwärts, um eine geeignete Stelle zur Überquerung zu finden. Was sich als recht schwierig herausstellt. Vor allem, mit einem Hund namens Lotti. An einer etwas flacheren Stelle binde ich die Leine kurzerhand um meine Hüfte und ohne lange zu zögern mache ich vier, fünf Schritte, während Lotti einfach hinter mir herrennt. Perfekt.

Eine Flussüberquerung weiter

Jetzt kann uns nichts mehr aufhalten. Es geht über den von Rentiermoos überwachsenen Boden, immer weiter, über den nächsten Hügel. Bis er schließlich auftaucht. Ganz allein steht er, gezeichnet vom Wind, mitten in der kargen Landschaft und schaut hinab auf den türkis leuchtenden Lusterfjord. Eine atemberaubende Aussicht hat er allemal. Wir gesellen uns zu ihm und genießen den Ausblick. Vor uns schlängelt sich der Fjord entlang, der durch das Lichtspiel der Wolken eine ganz eigene Dynamik entwickelt. Im Hintergrund hört man noch leise das Rauschen des Flusses, sonst umgibt uns nur Stille. Die noch leicht von Schnee bedeckten Berge thronen gutmütig über dem Fjord, während an ihren Hängen zahlreiche Wasserfälle herabstürzen. Es ist wunderschön hier. Lotti wälzt sich freudig im Moos und scheint ebenso zufrieden wie wir. Mittlerweile zeigt sich auch die Sonne wieder häufiger und wärmt uns ein wenig auf.

Wir genießen die Aussicht auf den Lusterfjord

Und so vergeht eine Stunde in Gesellschaft des einsamen Baumes und seiner herrlichen Aussicht. Doch so langsam wird es Zeit den Rückweg anzutreten. Weiter unten haben wir einen Weg entdeckt. Vielleicht führt er uns zu einer besseren Variante der Flussüberquerung. Also machen wir uns auf, werfen noch einen letzten Blick zurück, bevor es weitergeht. Der Pfad führt uns zunächst zu ein paar Hütten, die im Fjell stehen. Von dort gibt es mehrere Wege, die sich in alle Richtungen streuen, also nehmen wir den, der grob gepeilt zum Absteig führen müsste. Zwischen den Sträuchern taucht zu unserem Glück tatsächlich eine Brücke auf. Na die hätten wir ja vorhin auch schon mal finden können. Wobei ein bisschen Abenteuer gerne dazugehören darf.

Zurück am Harastølen legen wir noch eine kurze Pause an der Bank ein, von welcher man nochmal einen schönen Blick über den Lusterfjord hat. Umgeben von den vielen, leerstehenden Häusern. Zwangsläufig frage ich mich, wie das Leben hier früher wohl war. Versorgt wurden sie über eine kleine Seilbahn, ihren Strom bekamen sie von einer Wasserkraftturbine und es gab sogar eine Kapelle. Durch die Ansteckungsgefahr lebten sie also völlig isoliert als eigene, kleine Gemeinde. Und obwohl es uns schon ein wenig kribbelt, umgehen wir das mystisch, imposante Hauptgebäude, statt einen Blick hinein zu werfen. Als wir zurück im Ferienhaus sind, können wir es kaum erwarten, einen Blick aus dem Fenster zu werfen. Hoch zum Baum, der heute ein bisschen weniger einsam war. Ob er froh über unsere Anwesenheit war? Wir, für unseren Teil, haben seine jedenfalls genossen.

Weitere Artikel

Keine Kommentare

    Schreibe einen Kommentar