Eine dumpfe Stille umgibt uns. Lediglich die schweren Regentropfen, die auf unsere Kapuzen tropfen, durchbrechen sie. Dichter Nebel versperrt uns die Sicht auf den Fjord und seine Berge. Aber das beeindruckt uns nicht. Als wir vor etwa drei Stunden losgelaufen sind, hat wohl niemand von uns damit gerechnet, was heute alles auf der Abenteuerliste stehen würde.
Die Austernfischer piepen aufgeregt in die kühle Luft, während der Regen auf das Fensterbrett prasselt. Erst gestern sind drei kleine Küken geschlüpft, die beschützt werden müssen. Sie laufen auf dem begrünten Dach von Lars’ kleiner Hütte hin und her. Lars ist unser Vermieter und werkelt bereits am neu gebauten Haus. Diesen Tag wollen wir auf „seinen“ Berg laufen. Eine Karte gibt es nicht, aber er zeichnet uns den Weg auf ein Holzbrett, was vor der neuen Ferienhütte herumliegt. In der Hoffnung, wir können es uns merken…
Als der Regen nachlässt, fährt Lars mit uns zum Ausgangspunkt der Wanderung. In der Tat hätten wir ihn ohne seine Hilfe eher nicht gefunden. Kein Parkplatz, keine Markierung, lediglich eine steile Schotterstraße mit Schranke. Nochmals erklärt er uns, wo wir abbiegen müssen. Hier hoch, bei einem kleinen Häuschen in den Wald, immer rechts halten, den Traktorspuren folgen, über die Ebene zu einer Hütte, dann wieder rechts halten, gerade aus, unter den Stromleitungen entlang, dann links an einem See vorbei und dann wird die Erinnerung bereits schwammig. Aber wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Oder so ähnlich.
Wir laufen also die steile Straße nach oben bis wir eine winzige Holzhütte entdecken, umgeben von altem Holz und Traktorspuren. Da war doch was mit Traktorspuren. Wir biegen also in den Wald ab und folgen den Spuren des riesigen Gefährts. Tiefe Furchen durchpflügen den matschigen Boden, der durch den vorangegangen Regen noch aufgeweichter ist. Ab und zu müssen wir uns den Matsch von den Sohlen streifen, weil er extrem rutschige Absätze bildet. Und es geht wirklich steil aufwärts.
Nach den ersten 300 Höhenmeter gelangen wir auf ein kleines Plateau. Zunächst freuen wir uns noch über eine Ebene, das soll sich allerdings schnell ändern. Leichter Niesel hat wieder eingesetzt und nach den ersten paar Metern schmatzt es unter unseren Sohlen. Oh je, das Moos ist voll mit Wasser. Bei jedem Schritt sinkt man ein Stück ein. Rechts des Weges fließt ein Fluss, der etwas weiter hinten bereits über das Ufer getreten ist und seine Wasserarme über die Landschaft verteilt. Ein Pfad ist nicht mehr wirklich zu erkennen, vielleicht noch zu erahnen. Wir beschließen, uns eine kleine Brücke zu bauen, um noch ein Stück weiter zu kommen.
Alle suchen nach hilfreichem Baumaterial. Während Micha auf die andere Seite des Flusses springt, schmeißt Papa ein altes, kleines Stück Holz auf den ersten Teil, den es zu überqueren gilt. Mit einem beherzten Schritt sinkt dieses jedoch zusammen mit Papas Schuh komplett ein. Bis es sich von der schweren Last befreit und wieder nach oben schwimmt. Zu morsch und nicht tief genug also.
Von der anderen Seite des Flusses hört man plötzlich ein lautes Schnaufen. Micha hat einen toten Baum gefunden. Und will ihn nun über den Fluss schmeißen. Was soll ich sagen – der Versuch zählt. Mit zwei, drei Schwüngen schmeißt er den Baum von sich. Dieser hat jedoch gar nicht vor, auf die andere Seite zu fliegen. Stattdessen macht er eine halbe Drehung und landet mit einem lauten Platsch im Fluss. Gefolgt von kurzer Stille, brechen wir alle in großes Gelächter aus, was man sicherlich noch unten am Fjord hören konnte. Ab sofort übernehmen die Frauen, bevor sich noch einer der Männer verletzt.
Susann und Elke schleppen einen Baum an, der weiter hinten lag. Zwar auch schon etwas morsch, aber auf der richtigen Flussseite und noch im ganzen Zustand. Mit einem Schwung liegt er komplett über den Wasserarmen und alle können einigermaßen trockenen Fusses über das erste Hindernis laufen. Außer Micha, der steht noch auf der anderen Seite und kommt nicht mehr rüber. Der Fluss wirkt gar nicht so breit, das Ufer ist in unsere Richtung jedoch aufsteigend. Etwas weiter den Weg entlang, gibt es zum Glück noch eine geeignete Stelle, um ihn, im wahrsten Sinne des Wortes, herüberzuziehen.
Umgeknicktes Gras weist uns den ungefähren Weg über die sumpfig, moorige Landschaft bis wir tatsächlich die Schutzhütte erreichen. Keiner hat bis dahin gedacht, dass wir noch richtig sind. Während einer Stärkung, beginnt sich der Regen von kleinen Nieseltröpfchen in große, dicke Tropfen zu verwandeln. Aber egal, ein Stück können wir ruhig noch gehen.
Wir müssen uns jedoch erstmal auf die Suche nach dem Weg begeben. Ein paar kleine Pfade führen von der Hütte weg, enden allerdings nach etwa 50 Metern. Nach rechts, hat Lars gesagt. Und so kämpfen wir uns weiter mit schmatztenden Schritten durch die von Wasser getränkte Landschaft. Während es weiter regnet, können wir dem Nebel dabei zuschauen, wie er wieder nach oben steigt, um die Wolken zu fütten. So schnell wird sich der Regen also nicht legen.
Tatsächlich können wir zwischendurch auch mal einen Pfad entdecken, der jedoch relativ schnell wieder im Nirgendwo verschwindet. Immer wieder höre ich ein Fluchen, dann Gelächter. Jeder darf heute seine Wanderschuhe auf Wasserresistenz prüfen. Elke ist die Erste, die es erwischt. Vorsichtig läuft sie vor mir, bis zunächst ihr linker Fuß komplett im Wasser verschwindet. In der Hoffnung, die Situation schnell zu retten, springt sie mit dem rechten Fuß voran direkt in die nächste große Pfütze. Mein Mitleid ist groß, aber ein Grinsen kann ich mir über die elfenhafte Bewegung nicht verkneifen.
Die Rache folgt sofort. Während ich, noch leise in mich hineinlachend, unkonzentriert weiterlaufe, steckt mein rechter Fuß plötzlich komplett im Moor. Ich merke, wie das eiskalte Wasser von oben in den Schuh läuft. Da hilft auch eine schnelle Vorwärtsbewegung nicht mehr. Und so wendet sich das Blatt und ich bin die Fluchende, während alle anderen Grinsen.
Irgendwann stehen wir vor der Entscheidung, ob wir wirklich noch weiterlaufen wollen. Einen Gipfel kann man nirgends erkennen und Lars’ Beschreibung ist mittlerweile jedem entfallen. Da war doch noch was mit Stromleitungen und einem See. „Durch den See laufen wir ja schon die ganze Zeit“, denke ich. Aber so richtig aufgeben möchte niemand. Also geht es querfeldein den Berg hinauf. Jeder läuft still schweigend vor sich her, mit dem Gedanken ringend, warum wir uns das hier eigentlich antun. Und dann sehen wir einen Gipfel. Micha und ich schauen uns an, unser Blick herausfordernd und dann rennen wir los. Das letzte Stück und einer von uns wird der Erste sein. Was soll ich sagen, der alte Mann war es nicht 😛
Mit den Händen in der Luft jubelnd, werde ich schnell enttäuscht. Im Nebel lichtet sich der wahre Gipfel. Dazwischen liegt ein Tal mit einem reisenden Fluss in der Mitte. Anscheinend soll es für uns heute nicht weitergehen. Es regnet noch immer in Strömen, die eine Hälfte von uns hat nasse Füße, die andere ist durchgeweicht. Dennoch ist unsere Laune alles andere als mies. Wir sind geradezu euphorisch und glücklich über diese recht außergewöhnliche Wanderung. Dem Regen trotzen wir mit Lachen und genießen den Blick auf den Fjord. Die Wolken hängen tief und besonders weit können wir nicht schauen. Einmal mehr merken wir, dass der Weg das Ziel ist. Und der Weg war dieses Mal eine ganz besondere Herausforderung.
Als wir wieder unser Ferienhaus erreichen, erzählt uns Lars, dass es auch einen markierten Weg von der anderen Seite gibt. Wer auf Nummer sicher gehen möchte, den Gipfel auch zu erreichen, sollte lieber von dort starten. Den Ausgangspunkt markiere ich unten im Googlefenster. Übrigens sind in der Region alle Aussichtspunkte mit dem Schild „Stikk ut“ gekennzeichnet.
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