Norwegen Sogn og Fjordane

Aurlandsdalen – Norwegens wilde Seite

Ein Fluss, beruhigend still, langsam treibend, fließt santfmütig vorbei an grünen Wiesen und bewaldeten Ebenen. Ein Fluss, wild schäumend, aufbrausend, kämpft sich durch spitze Klippen und schroffes Gestein. Angetrieben vom Aurlandselvi, seine Stimmung aufsaugend, folgen wir ihm blind ins Tal hinein. Er versteht es, uns zu überraschen und zeigt uns jenes ursprüngliche Norwegen, in welches wir uns so verliebt haben.

Als Tagestour wählen wir die Route von Østerbø nach Vassbygdi. Im Nachhinein vielleicht etwas kompliziert gedacht, gehen wir wie folgt vor: Da wir mit zwei Autos unterwegs sind, warten Susann und Micha zunächst in Vassbygdi, während uns Papa nach Østerbø fährt. Von dort fährt er zurück und holt die anderen beiden. Somit haben wir je ein Auto am Start- und Zielpunkt, da wir noch nicht wussten, ob alle die gesamte Strecke laufen werden. Klingt kompliziert, ist aber eigentlich ganz einfach. Allerdings sind wir dadurch mit einer guten Zeitverzögerung gestartet, da eine Strecke per Auto doch länger gedauert hat als erwartet. Und bis wir dann den richtigen Weg gefunden haben, sind sicherlich auch noch einmal zehn Minuten vergangen. Die Chaostruppe ist unterwegs.

Das Wetter zeigt sich zum Glück von seiner guten Seite. Die Sonne steht hoch am Himmel und ein paar Wolkenfelder durchziehen das kräftige Blau. Wir sind bereit, uns in das Abenteuer zu stürzen. Der Weg startet ruhig, vorbei an einer Alm. Grasende Schafe stehen kauend im Licht der Sonne. Nach dem ersten Kilometer ändert sich das Bild schlagartig. Wo einst klapprige Holzbrücken und -geländer entlang der Felswand hingen, ist heute eine Pfad ins Gestein gehauen. Über uns Fels, unter uns Fels, rechts von uns Fels und links geht es steil abwärts. Und ich meine kerzengerade steil.

An der Nesbø-Alm legen wir die erste Pause ein. Einige Gemüter müssen schon frühzeitig beruhigt werden. „Ach, das war bestimmt der schlimmste Abschnitt!“, werfe ich unwissend in die Runde. Ich hatte ja keine Ahnung, was noch kommen sollte und entschuldige mich hiermit ausdrücklich! Und so nimmt uns der Fluss mit auf die wilde Reise entlang der Klippen.

Während ich begeistert die sich an der Felswand entlang schlängelnden Wege laufe, wird Mutti immer blasser im Gesicht. So langsam bekomme ich ein schlechtes Gewissen und als wir dann vor einem hinabströmenden Wasserfall stehen, denke ich, das war es jetzt. Rücktritt. Doch Mutti läuft weiter, nichts denkend wahrscheinlich. Niemand weiß, was noch kommt und die Kilometerschilder sind wenig hilfreich. Außerdem wundern wir uns, dass wir bisher nur eben und hoch gelaufen sind, obwohl es theoretisch hätte abwärts gehen sollen. Meine Gedanken schwanken zwischen „Wow, ist das schön hier!“ und „Oh je, was tust du deiner Mutti nur an!“ Zum Glück hat man uns in Østerbø darauf hingewiesen, dass die Bjørnstigen wegen eines Steinschlages noch nicht wieder begehbar sind. Mindestens zwei Familienmitglieder hätten wir dort nicht mehr runterbekommen, als wir den schmalen Pfad, von oben kommend, sehen.

Es fällt schwer, sich auf den Weg zu konzentrieren. Hinter jeder Ecke wartet ein neuer, atemberaubender Blick. Elke und ich machen noch einen kurzen Abstecher zur Vetlavelhete. Große Felsen stehen schützend aneinander gelehnt, während in der Mitte ein kleiner See liegt. Zurück auf dem Pfad, geht es nun das erste Mal so richtig abwärts, wonach wir uns alle schon gesehnt haben. In Serpentinen laufen wir bergab, immer wieder mit freiem Blick in das mystische Aurlandsdalen.

Die Stimmung des Aurlandselvi, von glasklar, türkis schimmernd bis weiß schäumend, saugen wir fortwährend in uns auf. Doch so, wie sein Lauf sich ändert, ändert sich auch der Weg. Und Muttis Stimmung. Während wir an einem flachen Stück pausieren, merkt man ihr die Strapazen an. Weniger körperlich, eher mental. Wir haben noch nicht mal die Hälfte geschafft und so langsam mache ich mir Sorgen. Doch dann schaue ich nach vorne und bin wieder gefangen von diesem wunderschönen Anblick. Auch meine Gedanken springen von absolutem Glück zu tiefer Besorgnis. Als ich eine Farm etwas oberhalb entdecke, hoffe ich, dass wir nicht wieder nach oben laufen müssen.

Doch ein paar Minuten später und schon wieder unterwegs, sehe ich einen orangenen Punkt Richtung eben dieser Farm laufen. Mist, Michas Rucksack! Den Blick schnell wieder auf den Boden gerichtet, hoffe ich, niemand anderes hat sie gesichtet. Dabei haben wir extra den Weg nach Vassbygdi gewählt, um nicht nur aufwärts zu laufen. Vor mich hinträumend, höre ich ein Rauschen, was langsam immer lauter wird. Es dauert nicht lange, da sehen wir ihn. Ein Wasserfall, der fast im freien Fall abwärts rauscht. Lediglich ein kleines schmales Stück ist flach, worauf eine Brücke platziert ist. „Auf allen Vieren?!“, denke ich, denn selbst in mir kommt das erste Mal ein wirklich mulmiges Gefühl hoch. Doch ohne weiter darüber nachzudenken, mache ich vier, fünf große Schritte. Geschafft. Auch der Rest folgt schnell – ohne viel darüber nachzudenken.

Auf Sinjarheimen werden wir herzlich begrüßt

Auf der Alm Sinjarheimen angekommen, gibt es endlich eine richtig gute Nachricht. Für uns wird frischer Kaffee gekocht! Herrlich. Vater und Sohn leben monatsweise auf der Alm, restaurieren, helfen bei der Herstellung von Ziegenkäse, wenn die Studenten aus der Stadt für eine Weile zum Lernen hier raufkommen. Während sie auf dem Dach ihrer Hütte saßen und die Natur durch das Fernglas beobachtet hatten, erzählen sie, haben sie uns an der Brücke entdeckt und sich gedacht, da kommen alte Leute mit Krückstöcken, lass mal Wasser aufsetzen. Alte Leute mit Krückstöcken… Tze…

In der rustikalen Küche mit Blick ins Tal kocht das Wasser in einem verbeulten Teekessel. Es riecht nach altem Holz, ist aber so richtig urig gemütlich. Es fühlt sich ein wenig an, als hätten wir einen Zeitsprung gemacht. Ich kann mir gut vorstellen, wie die ansässige Familie hier früher gekocht hat, während die Kinder draußen die Ziegen und Schafe umherjagten. Sofort fühle ich mich wohl. Und genieße den frisch aufgebrühten Kaffee.

Wir sind alle froh über die Ablenkung. Mal runterfahren, etwas über die Gegend erfahren und mit seinem schwarzen Humor erklärt uns der Hausherr, was wir noch vor uns haben. Nur noch ein paar steile Abschnitte, ein Wasserfall, durch den man hindurch waten muss. Dann wird es flach. Er bietet uns auch einen Schlafplatz an. „It´s not the Four Season, but it´s for free.“ Jedes Jahr kommen erschöpfte Wanderer hier lang, sagt er, die einfach nicht mehr weiter können und dann oben auf dem Boden schlafen.

Nach der Erholung geht es auf den letzten Abschnitt Richtung Vassbygdi

Aber wir sind erholt und gewillt, den Weg noch heute bis zum Ende zu laufen. Während Susann, Micha und Papa schon vorlaufen, um das Auto zu holen, begleiten Elke und ich Mutti bis zum Schluss. Es ist schon nach sechs. Zum Glück bleibt es lange hell. Erneut wird der Weg sehr steil. Teilweise sehen wir die gerade abfallende Kante, an der wir gleich entlanglaufen werden. Ich versuche Mutti, die wirklich große Höhenangst hat, in Gespräche zu verwickeln, um sie etwas abzulenken. Und so passieren wir Wasserfälle, werden nass, trocknen wieder, genießen die Natur oder versuchen es zumindest.

Bis erneut lautes Rauschen unsere Unterhaltung stört. Der herabströmende Wasserfall wirkt mit seinem weißen Schaum fast schon etwas bedrohlich. Doppelt so breit wie der Erste, liegen dieses Mal eine Holzbrücke und danach lediglich zwei Holzbretter zum Überqueren da. Wie wir später erfahren, hat Papa noch das zweite Holzbrett daneben gelegt, nachdem Susann bei nur einem Brett wegrutschte und mit einem Bein im Wasser landete. Gruselig! Mir schlottern die Knie. Während ich einen Fuß vor den Nächsten setze, überlege ich, wie wir Mutti hier nur hinüber bekommen sollen. Doch plötzlich steht sie schon direkt hinter mir. Selbst kaum glaubend, was sie gerade gemacht hat, beginnen wir zu lachen.

Felslawinen, die den Weg kreuzen, Serpentinen, die steil nach unten fallen, alles kein Problem mehr. Muttis Kopf scheint leer, der Körper funktioniert nur noch. Die Kilometerschilder saußen an uns vorbei. 4km, 3km, 2km, dem Ziel entgegen. Ein letzter Blick zurück, lässt die Frage aufkommen, wo sind wir da bloß langgelaufen?! Den letzten Kilometer folgen wir einem Kiesweg bis zum Kiosk in Vassbygdi. Micha läuft barfuss Kreise, bis er uns entdeckt, und Mutti verliert ein Tränchen, als sie realisiert, dass sie es endlich geschafft hat.

Qualmende Füße, durchgeschwitzte Kleidung, aber voll von wunderbaren Eindrücken warten wir schweigend auf unsere Fahrer. Es dauert noch eine Weile, bis wir alles verarbeiten können, aber wenn es um die Frage geht, welche Wanderung diesen Urlaub am Schönsten war, antworten wir alle gleichstimmig: Das Aurlandsdalen!

Unser GPS sagt übrigens: 25,1km Länge, Aufstieg gesamt 573m, Abstieg gesamt 1350m.

Der Weg ist auf jeden Fall anspruchsvoll und nichts für Menschen mit Höhenangst. Aber trotzdem einfach nur lohnenswert!

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2 Kommentare

  • Antworten
    Gudrun
    2. November 2017 um 13:02

    Hallo,
    bin durch Zufall auf deinen Block gestossen-ich bin völlig begeistert,von deinen tollen Bildern.Mein Bruder ist in die Nähe oslos gezogen,und ich hoffe ich komme auch bald mal hin. Beschenke uns weiterhin mit deinen tollen Bildern- LG Gudrun-Aus der Nähe Hannovers

    • Antworten
      thenorthtraveller
      2. November 2017 um 15:41

      Hallo Gudrun,
      freut mich, dass dir die Bilder gefallen! Ich werde fleißig weiterschreiben 😉
      Beste Grüße, Steffi

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